Drei Meter unter Null by Heib Marina

Drei Meter unter Null by Heib Marina

Autor:Heib, Marina
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Heyne Verlag
veröffentlicht: 2016-02-14T16:00:00+00:00


Wie ich war, was ich nicht war, bevor ich wurde, was ich bin

TEIL 3

Tektonische Plattenverschiebung

Vor zwei Jahren, es war am Anfang jenes sehr nebligen Novembers, wollte ich meine Eltern mit einem spontanen Besuch und einer großen Neuigkeit überraschen. Auf einer meiner beruflichen Reisen hatte ich Gernot kennengelernt. Die Firma hatte zu einer mehrtägigen, internen Fortbildung geladen, bei der die Vorträge mit diversen Stehempfängen endeten, um den bereits absehbar sensationellen Geschäftsjahresabschluss zu feiern. Gernot war einer der Redner, groß, schlank, gut aussehend und witzig. Ich war beeindruckt, weil er seinen Vortrag ohne Skript hielt. Und er konzentrierte sich nicht wie die üblichen Fachidioten in unseren Reihen nur auf detaillierte softwarespezifische Probleme, sondern öffnete mit klugen und witzigen Querverweisen den Blick aufs große Ganze und schlug Brücken zu interdisziplinären Betrachtungen über die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz. Er sprach über den Homunkulus, den Turing-Test, zeigte Ausschnitte aus Fritz Langs Metropolis und zitierte Isaac Asimov und aus Jean Pauls Die Automaten. Als ich mich während des Vortrags im Saal umsah, wurde mir klar, dass sich am Abend an der Hotelbar eine Traube aus Kolleginnen um ihn bilden würde, die mit ihm schlafen wollten.

Ich reihte mich nicht ein, hielt mich im Hintergrund und redete mit zwei nerdigen Hackern über Star Wars. Dabei würdigte ich Gernot und seinem Fanklub keines Blickes. Vermutlich war es genau das, was ihn an mir reizte. Wenige Stunden später landeten wir zusammen im Bett. Ich hatte nicht mehr als eine amüsante Nacht erwartet, doch beim gemeinsamen Frühstück gerieten wir ins Reden über seinen Vortrag. Und hörten – mit ein paar leidenschaftlichen Unterbrechungen – nicht mehr auf bis zum darauffolgenden Abend.

Es fühlte sich ein bisschen so an wie damals, vor vielen Jahren auf einem Friedhof in Berlin – mein erstes Gespräch mit meinem Mitschüler Christian, genannt Baal. Und es hatte eine ähnliche Wirkung. Seit damals hatte ich mich nicht mehr emotional auf einen Mann eingelassen. Nun tat ich es. Vorsichtig, zaghaft, fast misstrauisch, immer noch gebranntes Kind vom Scheitern meiner ersten Liebe.

Auch Gernot war zurückhaltend. Er hatte eine schmerzliche Scheidung hinter sich und war noch dabei, seine Wunden zu lecken, als er mich traf. Also gingen wir es langsam und betont unverbindlich an. Zuerst versuchten wir nur, die Orte unserer beruflichen Engagements möglichst unverkrampft zu koordinieren, was sich jedoch als schwierig herausstellte. Wir arbeiteten zwar für die gleiche Firma, waren aber unterschiedlichen Kundengebieten zugeteilt: Ich war meist im Osten Europas tätig, er im Süden, hauptsächlich Spanien und Italien. Überschneidungen hatten wir nur gelegentlich in Frankreich und Belgien, wo ich wegen meiner exzellenten Französischkenntnisse auch gebucht wurde. Als wir übereinstimmend feststellten, dass uns die sporadischen Treffen in Paris, Brüssel und bei Firmen-Events und Kongressen nicht mehr ausreichten, begannen wir, uns so oft wie möglich auch zwischen unseren Aufträgen zu treffen.

Nach einem Jahr fand Gernot, dass wir unserem unsteten Liebesleben etwas mehr Stabilität verleihen sollten. Einerseits erschrak ich, denn ich hatte Angst vor zu fester Bindung, die mir möglicherweise die Luft abschnüren würde. Andererseits war da auch eine nicht näher definierte Sehnsucht. Das Gefühl eines unerwarteten Glücks.



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